21. Juni: "Tent of Nations"

19.30 Uhr im Pfarrzentrum St. Donatus

Datum:
Mo. 22. Apr. 2019
Von:
Wolfgang Funke
Daoud Nasser spricht über sein Projekt „Tent of Nations“. Es geht um israelisch-palästinische Konflikte. „Wir weigern uns, Feinde zu sein“, ist das Schlagwort. Daoud Nasser erhielt dafür 2018 den Deutsch-Französischen Preis für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit.

Das Friedensprojekt „Tent of Nations“ (Zelt der Völker) liegt auf einem Weinberg etwa zehn Kilometer südlich von Bethlehem. Da die direkte Zufahrt seit 2001 mit einem „Road-Block“ durch die israelische Militärverwaltung unpassierbar gemacht wurde, muss der Besucher, will er mit seinem Fahrzeug bis an das Eingangstor zu dem Gelände des Weinberges gelangen, einen Umweg durch mehrere palästinensische Dörfer in Kauf nehmen. Viele Besucher lassen ihr Fahrzeug aber einfach an dem blockierten Fahrweg stehen und gehen zu Fuß die letzten 500 Meter bis zum Eingangstor. Auf dem Felsbrocken am Eingang des Geländes steht in Arabisch, Englisch und Deutsch: „Wir weigern uns, Feinde zu sein.“ Das ist das „Programm“ des Weinbergs und seiner Bewohner und zugleich die unmissverständliche Botschaft an die Besucher, auf alle Schikanen von israelischer Seite mit friedlichen Mitteln zu antworten.

Die Geschichte des Weinberges

Das herrliche, etwa 42 Hektar große Gelände, mit einem 950 Meter hohen Hügel hat Daher, ein Landwirt und der Großvater der christlichen Besitzerfamilie Nassar, im Jahr 1916 von einem Bauern aus dem nahe gelegenen palästinensischen Dorf Nahalin gekauft. Den Kauf ließ er ins Grundbuch eintragen - was damals sehr unüblich war. Als Daher mit seiner Frau und drei Söhnen auf das neu erworbene Land in eine Höhle zog, war Nahalin das einzige Dörfchen weit und breit. Daher und seine Familie begannen, das Land zu bearbeiten. Sie pflanzten Granatapfel-, Mandel-, Feigen- und Olivenbäume sowie Rebstöcke an. Obwohl seit dem Sechstagekrieg 1967 das Westjordanland – somit auch der Weinberg – durch Israel besetzt wurde, gab es zunächst keine Schwierigkeiten mit den Besatzern.

In den 1980er Jahren kam es zu einer allgemeinen israelischen Bestandsaufnahme der im besetzten Westjordanland landwirtschaftlich genutzten Gebiete. Dabei wurden die Eigentumsverhältnisse nicht überprüft. Der Einfachheit halber gingen die Israelis in der Regel davon aus, dass Grundstücke ohne Eigentümer waren und deklarierten sie zu israelischem Staatsland. Im Gegensatz zu vielen Palästinensern konnte Familie Nassar durch offizielle Unterlagen belegen, dass sie ihr Grundstück unter osmanischer, britischer, jordanischer sowie israelischer Besatzung durchgehend offiziell bei den jeweiligen Behörden registriert hatte und so ihren Besitzanspruch nachweisen.

Gerichtliche Auseinandersetzung

Trotz dieser Nachweise erklärte 1991 Israel einen Teil des Gebietes zu israelischem Staatsland. Seitdem wehrt sich die Familie Nassar gerichtlich gegen den widerrechtlichen Anspruch auf das Land. Das Verfahren ist auch heute, mehr als 25 Jahre nach seinem Beginn, noch nicht abgeschlossen und liegt seit Jahren vor dem Obersten Israelischen Gerichtshof. Familie Nassar muss bis heute jedes Jahr aufs Neue um den Erhalt ihres Besitzes kämpfen.

Der Weinberg befindet sich in einem sogenannten israelischen Siedlungsblock, dem „Gush Etzion“, der aus 22 Siedlungen mit einer geschätzten Bevölkerung von 70.000 Menschen besteht. Dahers Weinberg ist weit und breit die einzige Hügelkuppe, die noch nicht enteignet ist. Das frustriert die Besatzungsbehörden und die Siedlergruppen. Diese haben versucht, selbst an das Land zu kommen, indem sie fragwürdige Immobiliengeschäfte über Dritte arrangieren wollten. Zuletzt hat man Daoud einen Blankoscheck angeboten: Er hätte den Kaufpreis selber bestimmen können. Aber er ist standhaft geblieben.

Besonders vielen der israelischen Siedler aus den fünf illegalen Siedlungen, die in Sichtnähe um den Weinberg herum liegen, scheint Daouds Weinberg ein Dorn im Auge und ein begehrenswertes Objekt zu sein, dessen sie sich mit allen Mitteln bemächtigen wollen. Neben den diversen gerichtlichen Auseinandersetzungen kam es immer wieder zu gewaltsamen (oft nächtlichen) Übergriffen. Dabei wurden Bäume, Wasserbehälter und Pflanzungen zerstört sowie Mitglieder der Familie Nassar und Besucher mit Waffen bedroht. Am 19.Mai 2014 haben Siedler auf einem Teil des Weinbergs rund tausend Obst- und Olivenbäume mit schweren Maschinen gerodet – zehn Tage vor der Aprikosenernte. Die Bäume für die Wiederaufforstung haben nicht nur die vielen Besucher, die jedes Jahr Daoud Nassar und seine Familie besuchen, finanziert, sondern auch einige jüdische Gruppen. In der Zone C, in der sich der Weinberg befindet, hat Israel die Verwaltungshoheit über die Baugenehmigungen. Was dies konkret bedeutet, hat Familie Nassar seit nunmehr fast 22 Jahren zu spüren bekommen: Immer wieder wurden Bauanträge für Gebäude, Brunnen oder Zisternen, selbst der Antrag zum Aufbau eines Zeltes, abgelehnt und in der Folge des „unerlaubten“ Bauens bis zum heutigen Tag Abrissbefehle für Bauten und Einrichtungen auf dem Grundstück ausgestellt. Daoud Nassar sagt: „Wir sind auf unserem Hügel kreativ geworden und haben dem Negativen Positives entgegengesetzt. Wir haben unterirdisch gebaut: sieben Höhlen als Wohnung, Kapelle, Werkstatt. Wir bekommen keine Wasserleitung. So graben wir Zisternen zum Sammeln des Regenwassers. Wir erhalten keinen Anschluss ans Stromnetz. So haben wir mit Hilfe von Rupert Neudecks Grünhelmen Solarpanele installiert. Damit überwinden wir nicht nur die Ungerechtigkeit, sondern setzen auch ein Zeichen für den Erhalt unserer Umwelt.“

Friedensprojekt Zelt der Völker – Tent of Nations

Trotz der seit vielen Jahren oft bedrohlichen Situation hat die Familie Nassar weder resigniert, noch mit Hass oder Gewalt reagiert. Gemäß ihres Leitspruchs hat sie mitten in der 2. Intifada das Projekt: „Zelt der Völker – Tent of Nations“ ins Leben gerufen. Ein Teil des Landes wurde zu einer Begegnungs- und Bildungsstätte für Menschen aus aller Welt. Hier werden vor allem junge Menschen durch unterschiedliche Aktivitäten darauf vorbereitet, einen positiven, friedlichen Beitrag für ihre eigene Zukunft und die der gesamten Gesellschaft zu leisten. Auf dem Programm des Projektes stehen unter anderem Baumpflanzaktionen, Ernteaktionen im Rahmen internationaler Jugendbegegnungen, landwirtschaftliche Workcamps und Bildungs-veranstaltungen für die Frauen des benachbarten palästinensischen Dorfes Nahalin. Zum Programm gehört auch ein vierzehntägiges Sommercamp für die palästinensischen Kinder und Jugendlichen der Umgebung. Freiwillige aus aller Welt bringen diesen jungen Menschen ein Stückchen „Welt“ in ihr eingeschränktes, weithin perspektivloses Leben, indem sie mit ihnen spielen, Musik machen, Theater spielen, ihnen zuhören, sie ermutigen. Darüber hinaus besuchen mit steigender Tendenz zahlreiche Pilgergruppen den Weinberg und tragen die friedliche Botschaft, die von diesem Ort ausgeht, in alle Welt. Diese Aktivitäten werden koordiniert vom Jüngsten der Nassar-Brüder, Daoud Nassar. Unterstützt wird er von seiner Familie, besonders durch seine Frau Jihan, seine Schwester Amal und eine Vielzahl von – vor allem jungen – Freiwilligen aus vielen Ländern, die oft für einige Wochen, manche aber auch bis zu einem Jahr, sich aktiv in die so unterschiedlichen Arbeits- und anderen kreativen Betätigungsfelder einbringen, die dieses Projekt bietet.

Das Projekt als „Brückenbauer“ und Multiplikator

In den letzten Jahren wurden viele Menschen motiviert, sich aktiv an der Suche nach einem gerechten Frieden und Versöhnung zwischen Israel und Palästina zu beteiligen. Es sind Brücken entstanden zwischen Menschen mit unterschiedlicher Herkunft und Hintergrund, zwischen Israelis und Palästinensern, zwischen Juden, Christen und Muslimen. Daoud und seine Familie selber sind überzeugte und überzeugende (evangelische) Christen. Er möchte sich und seine Familie nicht als Opfer sehen, wie er unermüdlich betont. Ihm ist es wichtig, durch sein Beispiel des gewaltfreien Widerstands jungen Palästinensern Perspektiven in ihrem Land aufzuzeigen und Einheimischen sowie Besuchern die Verbundenheit zum Land vermitteln. Mit ihrem gewaltfreien Kampf um angestammte Eigentumsrechte in Verbindung mit völkerverbindenden Aktivitäten findet die Familie Nassar in aller Welt Anerkennung und Unterstützung. Nur durch diese Bekanntheit bis in hohe politische Kreise hinein konnte die Landentnahme bisher verhindert werden. Durch ihr unermüdliches friedliches Engagement ist der Weinberg auch Vorbild und Ansporn für viele Palästinenser.

Für seine engagierte Friedens- und Versöhnungsarbeit, die ihre Zuversicht im gelebten Evangelium, besonders in den Seligpreisungen, findet, erhielt Daoud Nassar im Dezember 2018 den Deutsch-Französischen Preis für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit.  

Wolfgang Funke (auch nach Texten von Marius Stark und Mark Bravermann), 6. März 2019